Erst die Anwendung des Materials macht aus einem toten Stoff die Literatur. Ein Buch ist so lange tot, so lange es nicht aus dem Regal genommen wird, ein Witz ist so lange kaputt und gibt keine Ruhe, bis er nicht ausgespuckt wird, eine Familiengeschichte bleibt so lange ein bürokratischer Verwaltungsakt, bis endlich jemand darüber zu erzählen anfängt. Judith W. Taschler benützt in ihren Erzählungen und Romanen ähnlich einer Rahmennovelle die Erfahrung des Lesers als Rahmen, um darin die Geschichte zu installieren. Man könne es vielleicht jene "Rahmenerfahrung" nennen, die die Literatur ermöglicht. Im Roman ohne U löst ein Vorgang am Rande der Literaturproduktion ein ganzes Lebensprogramm aus. Mitten im Krieg schenkt eine Mutter ihrem Sohn eine Schreibmaschine und verkauft dafür das letzte Schwein. Der Jugendliche schreibt sich durch den Krieg, und als er danach nach New York auswandern will, wirft ihm der Vater die Schreibmaschine zu Boden, so dass das U kaputt geht. Von da an muss er das aufgezeichnete Leben ohne U bestreiten. Dieses Beispiel für ein Handicap, mit dem man irgendwie zurechtkommen muss, haftet letztlich allen Figuren des Romans an. Es sind nicht ganz vollkommene Figuren die eine keinesfalls vollkommene Geschichte bewältigen müssen. Der Roman erzählt dabei eine breite Familiengeschichte aus der jüngeren Gegenwart. Die Figuren treten lose auf, starten ein Stück Beziehung, lieben sich anfangs unsäglich und treten dann mit den Gefühlen auf der Stelle und müssen die Sache wieder abbrechen. Jeder hat seine individuelle Geschichte, aber in Summe ergibt sich ein beiläufiger Ablauf von Zufälligkeiten, die der Ordnung halber Familiengeschichte genannt werden. Zentrum dieses Gemisches ist Katharina, die eingekesselt in der eigenen Familie zu Hause als Familienbiographin arbeitet und zugeschickte Schicksale zu einer satten Biographie aufbläst. Ihr Mann Julius geht schon länger fremd und stirbt bei einem Verkehrsunfall. In diesem Zustand von Befreiung und Trauer wühlt sich Katharina wie wild in eine zugetragene Geschichte, worin der Junge mit der kaputten Schreibmaschine sein berührendes Leben als Nachkriegsgefangener in sowjetischen Lagern erzählt. In der Verknüpfung von Gegenwart und GULAG rückt dann die wahre Schwerkraft des Lebens in den Vordergrund. Erst wenn es um Leben und Tod geht, kann man die Dimension von Liebe begreifen, erst wenn es um die Liebe geht, kriegen Leben und Tod ihre wahre Dimension. Judith Taschlers Roman ist jeweils in seinen Ausfransungen und Verknüpfungen auf die Mithilfe des Lesers angewiesen, der aus den durchaus abenteuerlichen Sequenzen sich ein großes Ganzes zusammenzusetzen vermag. Denn gerade das Nichterzählte, die Klusen und Sprünge bringen die Geschichte voran. Wie eben das fehlende U auf der Schreibmaschine durchaus das Getippte vertieft und verschärft.
Personen: Taschler, Judith W.
DR.G Tas
Taschler, Judith W.:
Roman ohne U : Roman / Judith W. Taschler. - Wien : Picus-Verl., 2014. - 329 S.
ISBN 978-3-7117-2018-4 fest geb. : ca. Eur 22,90
DR.G - Belle-Buch