Sautner, Thomas
Milchblume Roman
Buch

Quelle: bn.bibliotheksnachrichten (http://www.biblio.at/literatur/bn/index.html) Autor: Heinrich Klingenberg; "Heimatroman" abseits von Klischee und Kitsch. (DR) Sonderlinge und Behinderte hatten es auf Bauernhöfen nie leicht. Um diesen Themenkomplex kreist die Handlung dieses Buches. Jakob lebt auf seinem elterlichen Hof und ist immer wieder mit Unverständnis über seine geistige Behinderung konfrontiert. Dennoch versucht er stets, alles zu verstehen und auch körperliche Misshandlungen gottergeben hinzunehmen. Einige Ereignisse, die bis zur Viehschändung und zum Inzest reichen, treiben die Handlung voran und immer wieder gerät Jakob in Verdacht, irgendwie daran beteiligt gewesen zu sein. Als das Leben auf dem Hof für ihn immer unerträglicher wird, willigt er ein, auf einem Nachbarbauernhof als Knecht zu arbeiten. Schließlich kommt noch eine zarte Liebesgeschichte dazu. Die Erzählperspektiven dieses Romans wechseln des Öfteren. So erzählt Jakob vielfach in der Ich-Form, andererseits gibt es einen auktorialen Erzähler. Dies macht vermutlich auch den Reiz dieses Textes aus, denn so sehr man mit Jakob "mitleidet", wenn er von sich erzählt, so sehr ist man immer wieder "erleichtert", einen weiteren Erzähler zur Hand zu haben, der gleichsam den Überblick hat. Das romantische Ende passt nicht so ganz zum sonst gut gegliederten Aufbau. Kein klassischer "Heimatroman", sondern eine Erzählung mit Tiefgang bis an die Abgründe einer bäuerlichen Welt. Keine leichte Lektüre, aber anspruchsvollen LeserInnen durchaus empfohlen. ---- Quelle: Literatur und Kritik; Autor: Judith Leister; Vom edlen Idioten Thomas Sautners zweiter Roman "Milchblume" Grob könnte man sagen: Es ist nicht alles so, wie es sein sollte, im Dörfchen Legg des Jahres 1957. Zwar sitzen die Legger am Sonntag gewaschen und gescheitelt in der Kirche. Doch hinter den Kulissen treiben allerhand Dämonen ihr Unwesen. Zur gesamten Range der Todsünden gesellen sich umstandslos Sadismus, Sodomie und Inzest. Und von der Kirche, um es gleich zu sagen, ist auch nichts Gutes zu erwarten. Viele Täter und einige Opfer gibt es in "Milchblume", dem Roman des 1970 geborenen Thomas Sautner. Ein geborenes Opfer ist Jakob, der auf einem der Höfe als Ziehsohn lebt und wie Kaspar Hauser aus dem Nichts zu kommen scheint. Bevor alle Geheimnisse dieses an Klischees nicht eben armen Heimat- und Kriminalromans gelüftet sind, muss der junge Mann Einiges erdulden. Denn Jakob ist anders als die anderen. Er baut sich ein Kopfgestell mit Spiegel zum Rückwärtsgehen. Er klettert auf die riesige Buche, um zu spüren, wie es im Himmel ist. Er greift sich ein paar Hühner, um mit ihrer Hilfe vom Dach zu fliegen. Alles Mögliche stellt er an, um den Dingen auf den Grund zu kommen. Platons Diktum, wonach das Staunen der Beginn aller Philosophie ist, nimmt er wörtlich. Seine Umgebung betrachtet Jakob allerdings mit Argwohn. Für sie ist "der Jakob" einfach der Dorfdepp. Man kann ungestraft auf ihn schießen, ihn ein bisschen quälen und ein bisschen zu erpressen versuchen. Ausgerechnet auf dem Hof des finsteren Seifritz-Bauern wächst Jakob auf. Der einzige Lichtblick am Hof ist die hübsche Bauerntochter Silvia. Zu Jakobs Glück gibt es noch die "Fahrenden", die wie jeden Herbst ins Dorf kommen. "Zigeunerpack" nennt sie der Seifritz-Bauer. Anders als die Legger, die sich vor "Raunächten" und "Schwendtagen" fürchten, haben sie den Kontakt zur Natur noch nicht verloren und scheinen über ein geheimes Wissen zu verfügen. Ihr Chef Fabio hat Jakob einmal mit Hilfe der "Milchblume", einem natürlichen Penicillin, das Leben gerettet und ist für ihn wie ein Lehrer. "Gut und böse sind in jedem von uns", sagt er. Als im Dorf mehrere Kühe zu Tode vergewaltigt werden, fällt der Verdacht erst auf Jakob, dann auf die Fahrenden. Bei einem Brand wird Jakob zum Retter. Der Höhepunkt der Dorf-Soap ist erreicht, als Jakob gerade noch die Vergewaltigung Silvias durch den Seifritz-Bauern verhindern kann. Dafür jagt ihm der Bauer eine Salve in den Rücken. Szenenwechsel. Im Eibenwald. Der verletzte Jakob wird vom Deus-ex-machina in Gestalt seiner Großmutter gefunden. Die weise Frau enthüllt ihm, dass er aus einer jenischen Familie stammt. Die feinen Legger-Bürger - voran Pfarrer und Bürgermeister - hatten in der NS-Zeit dafür gesorgt, dass Jakob seinen Eltern entrissen wurde. Die Mutter war durch den Schuss eines Gendarmen getötet worden, der Vater hat sich darauf umgebracht. Nun um seine Familiengeschichte wissend, geht der gesundete Jakob zurück ins Dorf, wo er seiner Silvia, der er für sich den Namen seines Lebenselixiers, "Milchblume", gegeben hat, in die Arme fällt. Nach dem Debüt "Fuchserde" (2006) hat Sautner mit "Milchblume" den zweiten Roman über die Jenischen vorgelegt. Die Jenischen, über die in dieser Zeitschrift schon berichtet wurde, sind eine fast vergessene ethnische Gruppierung, deren genaue Herkunft unbekannt ist. Aufgrund ihrer wandernden Lebensweise und ihrer typischen Berufe wie Scherenschleifer und Korbflechter wurden sie oft mit Sinti und Roma verwechselt. Die Nationalsozialisten verfolgten die Jenischen als "rassisch minderwertig". Wie viele Jenische in der NS-Zeit zwangssterilisiert und umgebracht wurden, ist bis heute kaum erforscht. Bezogen auf den Roman heißt das: es ist anzunehmen, dass Jakobs Zwangsadoption im "Dritten Reich" vollzogen wurde. Sautner sagt das nicht explizit. So verdienstvoll die Aufarbeitung der jenischen Geschichte ist - Sautners Buch krankt an seinem Schwarz-Weiß-Schema. Den missgünstigen Dorfbewohnern stehen die heil- und weissagekundigen Fahrenden gegenüber. Die Bauern schimpfen, während Fabio einen Kalenderspruch nach dem anderen von sich gibt. Im Dorf arbeiten alle gegen einander; die Fahrenden dagegen halten zusammen. Schwer erträglich ist auch das, nun ja: "Gutmenschentum", das Jakob verkörpert. Der junge Mann plaudert nicht nur mit den Tieren, sondern fällt auch noch in Krämpfe, wenn in seiner Gegenwart jemandem wehgetan wird. Die Story vom edlen Idioten ist allzu plakativ. Sprachlich fühlt man sich oft in den Heimatfilm der 50er Jahre versetzt. "Wie klug der Schöpfer doch gewesen ist, als er die Jahreszeiten geschaffen hat", denkt Jakob ehrfurchtsvoll. "Totprügeln würde ihn der Vater", befürchtet er, nachdem er dessen Rasierspiegel zerbrochen hat. Wie der Seifritz- ist auch der Huber-Bauer: "Der Huber-Bauer hat schrecklich losgebrüllt und ist auf mich zugestürzt wie ein Stier. " Brav spiegeln sich die Konflikte in der Natur. Die Wolkenfront "hockt" "wie ein mächtiges, hungriges Tier auf der Lauer", bevor sich "Sturmwind und Regen" zum "tobenden Ungetüm" vereinigen. Es ist keineswegs alles schlecht in "Milchblume". Thomas Sautner muss ausführliche Recherchen zur harten körperlichen Arbeit auf dem Lande vor der Maschinisierung betrieben haben. Intelligente Heimatkunde sind auch seine Versuche, Vorgänge wie Saat und Ernte quasi ethnologisch zu beschreiben. Interessant ist ja auch der Ansatz, den verlorenen Bezug zur Natur der Legger als etwas Unheimliches darzustellen, wenn er nur nicht in gar so dicken Gewitterwolken hingepinselt wäre. Gerade wenn der Autor das reichlich vorhandene parodistische Potenzial seiner Geschichte nutzt, kann er überzeugen. Da ist zum Beispiel der komische Bauernregeln-Reimzwang, den die Seifritz-Großeltern wie einen Wettbewerb untereinander austragen. Lustig ist auch, wie Jakob beim Ausleeren des Rinderdungs in den Misthaufen fällt und im Nachsinnen immer tiefer darin versinkt, bis ihm einfällt, dass er um Hilfe rufen sollte. Doch leider will Thomas Sautner uns belehren. "Erzählen ist Lehren", sagt die jenische Großmutter. "Es ist sogar die zweithöchste Art des Lehrens."


Rezension


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Personen: Sautner, Thomas

Sautner, Thomas:
Milchblume : Roman / Thomas Sautner. - Wien : Picus-Verl., 2007. - 205 S.
ISBN 978-3-85452-622-3

Zugangsnummer: 457
Romane, Krimis, Erzählungen und Novellen - Signatur: DR Sau - Buch